Manchmal bin selbst ich über die von unseren “Politikern” öffentlich zur Schau gestellte Bigotterie schockiert. Und ich bin eigentlich nicht leicht zu schockieren.
Natürlich geht es um Wolfgang Thierse. Ehrlich gesagt hätte ich dem soviel (anscheinend sogar recht spontanen) Humor gar nicht zugetraut. Falls es noch jemanden geben sollte, der es nicht mitbekommen hat: Thierse hat in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung gesagt:
LVZ: Müntefering geht, weil ihm Privates in einer entscheidenden Lebensphase wichtiger als alles andere ist. Ein Einschnitt?
Thierse: Es ist eine unpolitische Entscheidung, dass Franz Müntefering seine Frau in der letzten Phase ihres Lebens direkt begleiten will. Seine Frau im Dunkeln in Ludwigshafen sitzen zu lassen, wie es Helmut Kohl gemacht hat, ist kein Ideal. Ohne dass das vergleichbar wäre. Die Politik ist nicht das Allerwichtigste. Man sollte sich in solchen Phasen das Recht nehmen, auch einmal still zu halten. Es ist nicht so, dass man ein Schwächling ist, wenn man nicht immer sofort in diesen unmenschlichen Entscheidungsdruck verfällt.
Zunächst ist bezeichnend, dass nur dieser eine (oben fett hervorgehobene) Satz überall zitiert wird. Was ich aber für wichtiger halte: Der Mann hat Recht. Dieses Statement ist inhaltlich zunächst einmal nicht angreifbar. So zu handeln, wie Helmut Kohl es damals getan hat, ist sicher eine Möglichkeit, aber es ist kein Ideal. Aussenstehende (und das dürfte in dieser Sache nahezu jede(r) sein!) können Kohls Entscheidung ja gerne mal gut, schlecht oder was-weiss-ich-wie finden, ohne dass eine Diskussion darüber zu einem sinnvollen Ergebnis kommen könnte. Darum geht es hier aber nicht.
Und natürlich ist es ein bisschen flapsig, in diesem Zusammenhang Kohls tote Frau ans Licht zu zerren (OK, der war flach), aber auch darum geht es nicht.
Was mich also wirklich (sozusagen wirklich wirklich ganz ehrlich!) aufregt, ist die Tatsache, dass jetzt alle wegen dieser flapsigen Bemerkung medienwirksam vollkommen ausflippen, während Leute wie Schäuble, Jung oder Zypries ungestört unsere Verfassung demontieren.
Das ist in etwa so, als würden in einer Fussgängerzone 130 Leute eine Dame mittleren Alters mit herausgerissenen Pflastersteinen erschlagen weil sie auf den Boden gespuckt hat. Und im Hintergrund vergewaltigt eine Bande Psychopathen vollkommen ungestört eine Gruppe Kinder, die aus der eben angezündeten Grundschule flüchten wollen.
Mir ist ein Rätsel, wieso Politiker in dieser unglaublichen Dreistigkeit auch noch Unterstützung bei den Medien finden. Die Psychopathen im Hintergrund verscharren noch den eben hingerichteten Artikel 10 unseres Grundgesetzes während im Vordergrund über gutes Benehmen diskutiert wird.
Klar, war nicht nett gegen den Helmut nochmal so nachzutreten, aber die Berechtigung sich darüber lautstark aufzuregen und Entschuldigungen oder den Rücktritt zu fordern, könnte nur jemand haben, der vorher noch unvergleichlich viel lauter und dramatischer den Rücktritt von Schäuble und Jung (um nur zwei zu nennen!) gefordert hätte. Da fällt mir allerdings keiner ein.
Außerdem: wo steht, dass man nett sein müsse?
Angenommen Thierse würde gute Politik machen und man jagt ihn davon, nur weil der Mensch Humor hat anstatt Benehmen…
Also Ich wünschte mir sowohl, dass mehr solche Witze gemacht werden, alsauch, dass solche Witze keinen stören.
Der ganze Haufen von Politikern kompromisst sich doch durch den Tag um am Abend in der Tabakindustrielobby auf einer Couch zu rauchen. So ehrlich wie Thierse ist da sonst keiner.
Schade eigentlich, dass Thierse so ziemlich der einzige ist, der nicht wirklich was zu sagen hat. Oder ist er mittlerweile endlich mal irgendwas?
Außer “Ihre Redezeit ist vorbei!” wird dem ja nicht wirklich zugetraut…